Marion Birkenbeil

 

 

Der Maler am Königssee

 

 

Martin wachte ruckartig auf und stieß sich den Kopf. Entrüstet und noch ziemlich schlaftrunken sah er sich um. Sobald ihm dämmerte, wo er sich befand, verbesserte sich seine Laune. Hurra, er war in Bayern! Endlich hatte er sich einen lang gehegten Traum erfüllt und war nun inmitten der gewaltigen Gebirgswelt in Schönau. Frohgemut schwang er seine Beine aus dem schmalen Bett unter der schrägen, ungewohnt niedrigen Zimmerdecke, schaute neugierig aus dem Fenster und sog die reine, kühle Morgenluft ein. Dichte Nebelschwaden verhüllten einen Teil der bewaldeten Berge und ließen die Landschaft mystisch erscheinen. In der Ferne ragten schroffe Felswände majestätisch zwischen den Wolken auf. Martin konnte es kaum abwarten, den weltberühmten Königssee zu sehen, den er unbedingt malen wollte. Auch wenn seine Freundin Anita seine Kunstwerke schmählich verachtet und sich sogar öffentlich über ihn lustig gemacht hatte, so verspürte er einen unbezähmbaren inneren Drang, seine Kreativität in der freien Natur auszuleben. Als er Stimmen und den unwiderstehlichen Duft von frisch gebackenen Brötchen vernahm, schob er sämtliche Gedanken an Anita und ihre zermürbenden Streitereien beiseite, machte sich rasch fertig und begab sich in die Gaststube im Erdgeschoss.

Grüß Gott!“, schallte es ihm sogleich entgegen, und verlegen grüßte er mit denselben Worten zurück, so ulkig sie ihm, einem Mann aus Hamburg, auch erscheinen mochten. Es war ihm irgendwie peinlich, allein am Tisch zu sitzen, und er hatte das Gefühl, alle würden ihn mitleidig anstarren. Aber Anita hatte ihm häufig vorgeworfen, er wäre viel zu schüchtern und schrecklich egozentrisch. Ach nein, er wollte doch gar nicht an sie denken! An einem Nachbartisch saß eine vierköpfige Familie mit einem riesigen Appetit, an einem anderen ein gut aussehendes, offensichtlich verliebtes Paar, das er auf Mitte dreißig schätzte. Die junge Frau, die strahlend auf ihn zukam, entsprach überhaupt nicht seiner Vorstellung von einer bayrischen Wirtin. Statt einer vollbusigen Dame in einem klassischen Dirndl hatte er eine schlanke, salopp gekleidete Frau mit einer geblümten Schürze, kastanienbraunen Wuschelhaaren und verschmitzt funkelnden Augen vor sich. Sie war ihm auf Anhieb sympathisch.

Hallo, ich bin die Martha! Meinen Mann Peter haben Sie ja bereits gestern Abend bei Ihrer Ankunft kennengelernt“, sagte sie und reichte ihm die Hand. „Willkommen in den Berchtesgadener Alpen!“

Willkommen im Märchenland, in dem man eine schlafende Hexe sehen kann!“, rief das Mädchen vom Nebentisch kess herüber.

Wenn man genug Fantasie hat, um sie auf dem Bergrücken zu erkennen“, erklärte Martha schmunzelnd.

Sie müssen unbedingt dem Echo auf dem Königssee lauschen!“, sagte das andere Kind zu Martin und brüllte aus voller Kehle: „Esel!“ und sodann etwas gedämpfter: „Esel, E ...“

Anton, sei still!“, unterbrach ihn seine Mutter streng.

Ich wollte dem neuen Mann doch nur das tolle Echo vorführen“, schmollte der Knirps, der höchstens sechs Jahre alt war.

Der neue Gast kann es selbst auf einer Bootsfahrt erleben“, meinte seine Mutter und verkniff sich ein Grinsen.

Ich hatte angenommen, dass ein Bootsangestellter auf einer Trompete oder einem Flügelhorn blasen würde“, sagte Martin amüsiert und strich sich über seine dunkelbraunen, fast schulterlangen Locken.

Stimmt, aber wir haben außerdem verschiedene Wörter gerufen, um den urigen Widerhall zu hören“, entgegnete das Mädchen. „Der Königssee ist wunderschön, doch ganz tief am Grund, mindestens einhundert Meter tief oder so, liegt das Wrack von einem VW Käfer. Angeblich ist der Fahrer vor vielen Jahren über den zugefrorenen Seerand gefahren, ins offene Wasser abgerutscht und versunken. Traurig!“

Sibylle, nun verrate nicht gleich alles!“, ermahnte sie ihr Vater.

Wir waren auch auf Sankt Bart ..., ähm, Barto ...“, stammelte Anton und errötete, weil ihm der Name nicht über die Lippen ging.

Auf der Halbinsel Sankt Bartholomä?“, half Martin nach.

Ja, da gibt es eine Eisgrotte, rote Zwiebeltürme, einen Badestrand und eine Saugasse“, sprudelte Sibylle hervor.

Sind Sie schon länger hier?“, erkundigte sich Martin bei den Eltern.

Ja, seit drei Wochen, und leider ist unser Urlaub bald vorbei“, erwiderte der Vater, ein rundlicher Mann mit einer Halbglatze, bedauernd.

Die Kinder zogen eine Schnute, und ihre Mutter sagte rasch zur Beschwichtigung: „Heute wollen wir nach Berchtesgaden ins Salzbergmuseum. Ich bin echt darauf gespannt, mit einer Bimmelbahn durch die Tunnel zu fahren und auf steilen Rutschen in die gähnende Tiefe zu sausen!“  Ihre himmelblauen Augen leuchteten in freudiger Erwartung, und Anton kicherte vergnügt.

Möchten Sie vielleicht mitkommen?“, bot der Vater Martin an.

Das ist ja nett gemeint, aber heute möchte ich lieber in der frischen Luft spazierengehen und ein bisschen malen. Schließlich habe ich gestern stundenlang im Zug gesessen.“

Sind Sie ein Künstler?“, fragte Martha, die ein voll beladenes Tablett vor ihm abstellte, bei dessen Anblick ihm sofort das Wasser im Munde zusammenlief.

Na ja, meine Exfreundin fand meine Werke scheußlich“, gab er zu, insgeheim erschrocken, Anita als Ex zu bezeichnen. Immerhin lag ihre Trennung erst ein paar Wochen zurück.

Zum ersten Mal mischte sich das Pärchen in die Unterhaltung ein. Der Mann sagte nachdenklich: Geschmäcker sind eben verschieden. Ich finde manche Bilder potthässlich, für die andere Leute Unsummen ausgeben oder sogar morden würden.“

Was malen Sie denn so?“, fragte seine Frau oder Partnerin und betrachtete Martin interessiert mit ihren grünen Augen.

Unvermittelt fiel Martin die verblüffende Ähnlichkeit der beiden auf. Es war allgemein bekannt, dass alte Ehepaare ein ähnliches Aussehen annehmen können, aber Leute in seinem Alter? Und dann dachte er an seine Schwester und deren Hund, die ebenfalls erstaunliche Gemeinsamkeiten aufwiesen. Ob es daran lag, dass sie dauernd zusammen waren und sich gegenseitig imitierten? Er grinste breit und sagte: „Am liebsten male ich fotorealistische Landschaften, doch häufiger bekomme ich Aufträge für Tierbilder, meistens von Hunden und einmal von einem niedlichen Ferkel namens Otto. Manche Besitzer kleiden ihre Lieblinge zu diesem Anlass in verrückte Kostüme oder stülpen ihnen einen albernen Hut auf.“

Papa hat gestern einer Kuh seine Kappe aufgesetzt. Die lag gemütlich auf der Alm herum und nahm es ganz gelassen“, sagte Anton. „Schade, dass Sie das verpasst haben!“

Na so was! Mal schauen, ob ich auch Kühe zeichnen werde. Jedenfalls habe ich mir fest vorgenommen, den Watzmann zu malen.“

Die Landschaften in dieser Gegend sind wirklich zauberhaft“, meinte die grünäugige Frau und lächelte Martin an. „Übrigens, ich heiße Renate, und das ist mein Bruder Lothar.“ Sie nickte dem Mann ihr gegenüber flüchtig zu und wandte sich wieder an Martin: „Wir waren gestern am Malerwinkel, von dem man eine herrliche Aussicht auf das Steinerne Meer hat. Allerdings haben wir dort keinen einzigen Maler, sondern nur fotografierwütige Touristen gesehen.“

Martin verschluckte sich fast an seinem Kaffee. Es war also gar kein Liebespaar; da hatte er sich ja gründlich vertan! Seltsamerweise schien sein Herz plötzlich zu jubeln, und seine Alltagssorgen lösten sich allmählich in Luft auf, während die Sonne die letzten Nebelfetzen verjagte. Nach dem Frühstück schlenderte er durch Schönau, bewunderte die hübschen Häuser mit ihren blumengeschmückten Balkons, trank ein Glas Spezi in einem Café und kühlte seine Füße in einem munter sprudelnden Bach. Er konnte sich gar nicht an den malerischen Bergen satt sehen. In der Frühe waren sie ihm zwar noch grau und bedrohlich erschienen, doch jetzt schimmerten sie silbrigweiß vor dem blauen Himmel. Noch nie zuvor war er allein in Urlaub gefahren, und er genoss die neue Erfahrung. Erst am Abend kehrte er erschöpft, aber zufrieden mit einem ersten Sketch vom Königssee ins Gästehaus zurück und wurde mit einem besonderen Schauspiel belohnt: Die höheren Bergkuppen glühten flammend rot über den niedrigeren grauen Bergen und den dunklen Wäldern, und düstere Wolken zogen wie Rauchfahnen daher. Trotz des spektakulären Sonnenuntergangs beschlich ihn eine unbestimmte Angst, so etwas wie eine böse Vorahnung, und er fröstelte.

 

Am nächsten Morgen war Martin der erste Gast im Speiseraum, aber Renate und Lothar setzten sich schon nach wenigen Minuten zu ihm. Die Geschwister waren überglücklich, zwei Wochen miteinander in Bayern verbringen zu können, da sie sich sonst nur ganz selten sahen. Lothar war nämlich vor einigen Jahren nach Neuseeland ausgewandert, und Renate wohnte in Bremen. Im Laufe des Gespräches beschlossen sie, zu dritt nach Ramsau zu fahren und eine Wanderung in der Wimbachklamm zu unternehmen. Die nette Kölner Familie schien heute zu verschlafen. Jedenfalls hoffte Martin sehr, dass sie sich am vorhergehenden Tag nicht im Bergwerk verirrt hatte und dass kein Stollen eingestürzt war.

Die Sonne versteckte sich noch hinter den Wolken, als Martin und seine neuen Bekannten sich auf die Socken machten. Renate und Lothar hatten einen Affenzahn drauf, schnatterten und lachten unentwegt und waren ohne Frage fitter als er. Martin freute sich über jede Verschnaufpause, und in der Klamm hielten sie oft an, um die Felsformationen und türkisgrüne Gumpen in dem Bachlauf zu betrachten. Dennoch geriet Martin mit zunehmender Höhe außer Puste. Inzwischen schoss das Wasser weiß schäumend in einer atemberaubenden Geschwindigkeit durch die Schlucht, und auch von den steilen, stellenweise moosbewachsenen Felswänden zu ihrer Seite flossen unzählige Wasserfälle. Überall schien es zu gurgeln und zu brodeln. Der Weg führte über viele Holzbrücken, und Martin fragte sich, ob sie etwa jede Sekunde einstürzen könnten. Etwas zaghaft lehnte er sich erneut über das Geländer, um die faszinierenden Naturgewalten zu bewundern. Als er sich dann wieder umdrehte, sah er direkt in Renates Augen, die so klar und grün wie der Königssee glänzten. Er erschauerte und wusste nicht, ob es vor Glück oder vor Angst war. Was war nur mit ihm los? Seit der Trennung von Anita wollte er eigentlich überhaupt nichts mehr mit Frauen zu tun haben. Doch Renate hatte von Anfang an eine unglaubliche Anziehungskraft auf ihn ausgeübt. Idiot!, schalt er sich selbst, als ein entsetzter Schrei ihm durch Mark und Bein fuhr.

Da ist eine Leiche!“, schrie Lothar, der bereits höher gestiegen war.

Spinnst du?“, fragte Renate belustigt.

Nee, im Ernst!“, krächzte Lothar.

Martin folgte seinem Blick und erblasste. Inmitten des tosenden Wildbaches klemmte tatsächlich ein Mann zwischen den Felsbrocken fest. Auch Renate erspähte ihn jetzt, und ihr wurde schlagartig übel. Mit Mühe unterdrückte sie ein Würgen.

Vielleicht lebt er ja noch! Wir bräuchten ein langes Seil, und zwar ganz schnell“, sagte Martin verzweifelt.

Ein neuer, schriller Schrei ertönte, diesmal von einer stämmigen Frau mit strammen Waden, die von oben kam und einer Gruppe von älteren Wanderern vorausgelaufen war, die sich nach und nach zu ihnen gesellten. Ein Herr mit eisgrauen Haaren schüttelte den Kopf. „Der ist nicht mehr zu retten.“

Ein kräftiger Mann übergab sich in hohem Bogen, wobei er die Wanderschuhe eines anderen nur um wenige Zentimeter verfehlte. Alle starrten fassungslos auf das erbärmliche Wesen, das kontinuierlich von neuen Wassermassen überspült wurde, jedoch zu fest zwischen drei Felsen eingezwängt war, um weiter ins Tal treiben zu können. Hauptsächlich sah man nur ein buntes Hemd und einen blonden Haarschopf. War es ein verunglückter Tourist? Was sollten sie bloß tun? Sie konnten doch nicht einfach nur dumm glotzen!

Schließlich sagte die Dame mit den muskulösen Waden zu ihrer besten Freundin: „Komm, wir flitzen weiter und rufen die Bergwacht an, sobald wir Empfang für mein Handy bekommen!“ Und flugs eilten sie davon.

Ein Mann mit einem flotten Jägerhut und zwei Wanderstöcken putzte sich die Nase und fragte: „Ob dieser Mann auf irgendeine Klippe klettern wollte und dabei abgestürzt ist?“

Das wäre doch Selbstmord“, meinte eine magere Frau.

Vielleicht wurde er ja ermordet“, sagte Martin.

Ein ungläubiges Raunen ging durch die Schar, und die Luft schien eisiger zu werden. Lothar legte seinen Arm um seine Schwester. „Sollen wir weitergehen?“, fragte er leise. „Es hat keinen Sinn, stundenlang hier herumzustehen.“

Eigentlich war ihnen die Wanderlust vergangen, aber Renate und Martin willigten ein, weil ihnen kalt geworden war. Drei andere Leute gingen schleunigst nach Hause, zwei Männer wollten auf den Rettungsdienst warten und auf den Schock erst mal einen Enzian trinken.

Martin stapfte schweigend hinter Renate und Lothar bergauf, bis er laut sinnierte: „Da diese sieben Spaziergänger den Mann anscheinend weder tot noch lebendig bemerkt hatten, bevor sie uns trafen, nehme ich mal an, dass er noch nicht lange tot ist. Ohne unsere zahlreichen Pausen hätten wir ihm vielleicht noch helfen können.“

Renate blieb stehen und sah ihn ängstlich an. Ihr Gesicht, das von langen schwarzen Haaren umrahmt wurde, wirkte schmal und verletzlich. „Also könnte der Mörder noch in der Nähe sein.“

Ach Quatsch!“, keuchte Lothar. „Wer sich hier verstecken will, müsste unter einen Holzsteg oder auf eine Felswand klettern oder sich in die Schlucht abseilen, und das wäre viel zu gefährlich.“

Martin stimmte ihm zu, doch sein mulmiges Gefühl wollte einfach nicht weichen. Er seufzte, und zu seiner Überraschung nahm Renate ihn in die Arme und drückte ihn fest an sich. Da schrie Lothar nochmals gellend auf und versetzte sie in schiere Panik. Was war nun passiert?

Grüß Gott!“, sagte ein Fremder, der unvermutet hinter einer Biegung aufgetaucht war. „Sehe ich so schreckerregend aus?“

Nee, ich hatte nur nicht erwartet, dass jemand um die Ecke schießt.“ Lothar lächelte verkrampft und überlegte, ob er etwa dem Mörder gegenüberstand.

Aber der junge Kerl in den ausgelatschten Turnschuhen sah eher harmlos aus und grinste entwaffnend. „Ja, ich bin heute früh dran. Vermutlich ist sonst noch keine Menschenseele unterwegs.“

Doch, wir sind bereits einer ganzen Gruppe begegnet“, widersprach ihm Renate. „Und sei bloß vorsichtig!“ Sie berichtete ihm von der Leiche.

Der Mann wurde kreideweiß. „O nein, schon wieder? Von nun an werde ich nie mehr allein in die Berge gehen.“

Warum?“, wunderte sich Martin.

Habt ihr denn gar keine Nachrichten gehört? Gestern ist eine dänische Touristin abgemurkst worden.“

Echt?“

Ja, eine Kölner Familie hat sie in der Almbachklamm gefunden. Was für eine grausige Entdeckung, vor allem für die Kinder, die erst sechs und acht Jahre alt sind!“

Martin erschrak. Konnte es sich womöglich um Anton und Sibylle handeln? Aber sie wollten doch gestern ins Salzbergwerk fahren, und ihre Gastgeberin hatte auch nichts erwähnt. Allerdings war Martha an diesem Morgen merkwürdig in sich gekehrt gewesen. Wie in Watte gehüllt, hörte er Renates Frage: „Ist die Frau wirklich umgebracht worden?“

Ja, irgendein Schurke hat sie ausgeraubt und in die Schlucht geschubst“, entrüstete sich der Mann.

Renate ergriff Schutz suchend Martins Hand, und obwohl ihre zierliche Hand genauso klamm wie seine eigene war, wurde er von einer tröstenden Wärme erfüllt. Gleichzeitig sorgte er sich um den einsamen Wanderer und schlug daher vor, sofort umzukehren, statt wie geplant bis zur Wimbachgrieshütte zu gehen. Der Mann, der sich als Ivo vorstellte, war ungeheuer erleichtert, denn in ihrer Gesellschaft würde es bestimmt niemand wagen, ihn anzugreifen. Dennoch stockte ihm der Atem, als sie den Holzsteg erreichten, auf dem zwei Männer oberhalb der Leiche hockten. War dieses arme Geschöpf ebenfalls von einem brutalen Dieb umgebracht worden? Oder trieb sich ein Wahnsinniger in der Gegend herum?

Sie wechselten nur wenige Worte mit den beiden vom Schnaps leicht beschwipsten Männern und trafen etwas später auf die Bergwacht, die sich um das Opfer kümmern würde. Ohne weitere Zwischenstopps geleiteten Martin und die Geschwister Ivo zu seiner Ferienunterkunft und kehrten in ihre eigene zurück, wo die Kölner Familie und Martha in der Gaststube saßen. Ihre verweinten Augen sprachen Bände.

Sibylle erzählte mit tränenerstickter Stimme: „Wir haben gestern eine Leiche gesehen!“

Martin platzte heraus: „Und wir heute!“

Nacheinander gaben sie ihre grässlichen Erlebnisse preis. Wegen der langen Warteschlange am Salzbergwerk hatte die Familie diesen Besuch aufgeschoben und stattdessen die Marmorkugelmühle und die Almbachklamm besichtigt. Und dort hatten sie am späten Nachmittag die aus einer Kopfwunde blutende Frau im Wasser entdeckt.

Anton schluchzte los: „Sie war mausetot! Und dieser blöde Mann mit dem Eierbart und dem Jägerhut wollte uns nicht helfen, sie herauszuziehen, obwohl er zwei Wanderstöcke hatte und wir die irgendwie mit einem langen Ast zusammenbinden wollten.“

Lothar fragte verdutzt: „Eierbart?“

Ein eiförmig gestutzter Bart mit dem Mund mittendrin“, erläuterte Sibylle.

Martin rief aufgeregt: „Den Typen haben wir heute auch getroffen, das kann doch wohl kein Zufall sein. Und er hatte eine blutige Schramme auf der Hand. Vielleicht wurde er als Letzter in der Gruppe von einem Wanderer überholt, schlug den heimtückisch von hinten nieder, nahm sein Portemonnaie und warf ihn in den Bach, bevor er wieder zu seinen Freunden aufrückte und so tat, als ob nichts geschehen wäre.“

Wir müssen die Polizei verständigen“, sagte Martha erschüttert und beichtete sodann, dass sie Martin, Renate und Lothar den Tod der Dänin zunächst verschwiegen hatte, da sie ihnen nicht den Tag verderben wollte.

 

Dank Martins Verdacht wurde Werner Lampert, ein rüstiger Rentner aus München, rasch verhaftet. Der ehemalige Kampfsportler hatte vor Kurzem in einem Casino eine riesige Geldsumme verloren und aus reiner Habgier sowohl die dänische Wanderin als auch einen Touristen aus Münster getötet. Mit der zierlichen Frau, deren funkelnde Goldkette ihn zum Raubüberfall animiert hatte, hatte er ein leichtes Spiel gehabt. Außer ihrem Schmuck hatte er ungefähr dreihundert Euro erbeutet und sich kurz danach ins Fäustchen gelacht, als eine ahnungslose Familie ausgerechnet ihn um Hilfe gebeten hatte, die Frau aus dem Wasser zu fischen. Auf eine neue Chance hoffend, war er am nächsten Morgen ganz früh losmarschiert und tatsächlich wieder auf einen einzelnen Spaziergänger gestoßen. Diesmal war sein Angriff jedoch weniger erfolgreich ausgegangen. Der schmächtige Bursche hatte sich nämlich gewehrt und ihm eine tiefe Kratzwunde und mehrere blaue Flecken zugefügt, und er hatte nur mickriges Kleingeld bei sich getragen. Und kaum hatte Werner ihn weit oberhalb der Stelle, an der Lothar ihn erblickt hatte, ins tosende Nass geworfen, war er auch schon den anderen sechs Wanderern begegnet. Einem spontanen Einfall folgend, hatte Werner einen kleinen Schwächeanfall vorgetäuscht, sich der laut schwatzenden Gruppe angeschlossen und dann am Fundort der Leiche Verblüffung und Mitleid geheuchelt.

Eigentlich schien es unfassbar, dass er seine Gräueltaten so dreist an beliebten Ausflugsorten ausgeführt hatte. Doch wer würde schon einen alten Rentner verdächtigen? Werner, der Glücksspiele und Nervenkitzel geliebt hatte, hatte also für einen geringen Gewinn viel riskiert und letztendlich alles verloren. Martin war heilfroh, dass der skrupellose Mörder geschnappt worden war. Bei jedem Gedanken an den leblosen Körper in der tiefen Schlucht stieg ihm bittere Galle in die Kehle.

 

 

Am letzten Urlaubstag der Kölner Familie fuhren sämtliche Gäste von Martha und Peter mit der Seilbahn auf den Jennergipfel. Über Nacht war etwas Neuschnee gefallen, und dort oben in der glitzernden Pracht verblassten ihre Erinnerungen an die schrecklichen Erlebnisse. Die Kinder fühlten sich pudelwohl, und Renate und Martin küssten sich zum ersten Mal. Am nächsten Tag malte Martin den Watzmann mit Renate im Vordergrund. Ihre Augen erstrahlten in demselben Farbton wie der Königssee, und Lothar war vor lauter Begeisterung vollkommen aus dem Häuschen. Er bekam eine Kopie und hoffte, dass niemand für das Original morden würde.

 

 

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© 2023 Marion Birkenbeil



© 2013 Marion Birkenbeil
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